Im letzten Beitrag habe ich Situationen erwähnt, in denen wir uns nicht bewusst sind, dass wir gerade dysreguliert sind. Heute möchte ich auf ein Beispiel für eine solche Situation eingehen – die Prokrastination.
Niemand wird sich allzu sehr wundern, wenn er keine Lust hat, die Steuererklärung zu machen und diese eine weitere Woche vor sich herschiebt. Aber oft verschieben wir auch Tätigkeiten, die uns wirklich wichtig sind, weil wir in dem Bereich ein Ziel verfolgen und weiterkommen wollen – und manchmal sogar Tätigkeiten, die wir eigentlich gerne tun. Warum tun wir das?
Wenn wir prokrastinieren, also wichtige Aufgaben verschieben, ist das in vielen Fällen nicht Faulheit, sondern eine Schutzreaktion des Nervensystems gegenüber Überforderung und Angst.
Vor einer Aufgabe zu stehen, die unser Gehirn nicht gewöhnt ist zu lösen, ist angsteinflößend.
Vor einer Aufgabe zu stehen, die unser Unterbewusstsein aufgrund vergangener Erfahrungen als unsicher einstuft, ist ebenfalls angsteinflößend.
Beides sind ganz normale Reaktionen.
Bildlich gesprochen liegt ein Canyon zwischen unserem aktuellen Ziel und dem, was unser System als sicher erachtet.
Wenn wir uns unserer Angst bewusst sind, können wir versuchen uns mit verschiedenen Techniken selbst zu regulieren.
Häufig nehmen wir aber nur das Symptom – die Prokrastination – wahr. Der zugrunde liegenden Angst sind wir uns dann gar nicht bewusst.
Darüber hinaus kann sich Prokrastination auch verdeckt äußern, dann nehmen wir nicht einmal sie bewusst wahr.
Das Verhalten, das wir üblicherweise mit Prokrastination verbinden, wäre, dass wir den Canyon sehen und uns plötzlich einfällt, dass die Küche mal wieder dringend gewischt werden müsste. Also gehen wir nach Hause und lassen den Canyon Canyon sein.
Die verdeckte Variante, die sogenannte produktive Prokrastination, wäre, dass wir den Canyon sehen, Anlauf nehmen, springen – und hineinfallen.
Aufstehen, wieder hochklettern, Anlauf nehmen, springen – und erneut hineinfallen.
Das machen wir eine Weile so, bis wir uns endgültig bewiesen haben, dass wir es nicht schaffen, und ebenfalls wieder nach Hause gehen.
Dieses Verhalten nehmen wir nicht unbedingt als Prokrastination wahr, weil wir ja eigentlich sehr aktiv an unserem Ziel zu arbeiten scheinen.
Letztlich bleibt das Ergebnis dasselbe. Wir ärgern uns über uns selbst, weil wir uns eigentlich doch wünschen, diese großartige Sache machen zu können.
Doch unser Nervensystem ist darauf programmiert für unser Überleben zu sorgen, nicht darauf, dass wir großartige Dinge vollbringen.
Wenn uns die Prokrastination bewusst ist, begegnen wir ihr meist mit kognitiven Strategien wie Disziplin, Entwicklung von Handlungsplänen, Prioritätenlisten, MindSet etc.. Doch diese sind, wie schon im letzten Beitrag beschrieben, limitiert, weil unser Gehirn so nicht funktioniert. Solange wir uns nicht sicher fühlen, tritt der denkende Teil unseres Gehirns, der präfrontale Kortex, in den Hintergrund und wird von den emotionalen und instinktiven Bereichen überlagert. Das hat nichts mit dem Charakter zu tun, es ist biologisch determiniert.
Zudem mag unser Gehirn keine Veränderung. Eine Situation, die es kennt, selbst wenn sie ein vorhersehbares schlechtes Ende nehmen wird, macht uns weniger Angst, als einen neuen Weg auszuprobieren. Und leider ist es häufig so, dass das Scheitern sehr vertrautes Terrain für uns ist.
Und nun?
Die Realität wahrnehmen
Das scheint oft der schwierigste Punkt in diesem Prozess zu sein. Ein realistisches Selbstbild zuzulassen, kann sehr schmerzhaft sein, und wir haben starke Selbstschutzmechanismen, die uns vor zu viel Schmerz bewahren. Dazu schreibe ich weiter unten noch etwas mehr.
Die Realität akzeptieren
Da gibt es diesen Canyon und wir können da nicht mal eben rüberhopsen. Das heißt: Wenn wir es schaffen wollen, werden wir jeden einzelnen Stein herbeitragen und eine Brücke bauen müssen, die uns darüber bringt – oder bis zum dem Punkt stützt, von dem aus wir es schaffen zu springen.
Und ja, es ist unglaublich nervig, und es fällt uns schwer, in diese Zwischenschritte Zeit zu investieren. Wir sind ungeduldig oder schämen uns. Wir wollen diese Sache jetzt einfach machen können. Und in aller Regel wächst es nicht mal auf unserem Mist, dass unser Nervensystem im Gefahrenmodus feststeckt – das haben uns andere Menschen eingebrockt. Das ist alles richtig und dennoch: Das ist unsere Realität und mit der müssen wir jetzt arbeiten.
Unser Nervensystem mit ins Boot holen
Was ist die kleinstmögliche Aktion, die wir heute gewillt sind zu tun, um die Lücke zwischen dem, was wir uns vorgenommen haben und unserem Ist-Zustand zu schließen.
Anders gesagt: Welcher Schritt ist so klein, dass er unserem Unterbewusstsein noch keine Angst macht?
Das klingt nach ziemlich kleinen Schritten. Stimmt. Aber nur erst einmal – nach und nach werden sich auch größere Schritte sicher anfühlen und keinen Widerstand mehr in uns wachrufen.
Ehrlich mit uns sein.
Ich kann mir abends um 00:30 vornehmen, dass ich morgen früh um 06:30 aufstehen werde, um an meinen Texten zu arbeiten.
Aber wenn ich ehrlich bin, dann weiß ich, dass es Unsinn ist, weil ich nach nur sechs Stunden Schlaf nicht in der Lage bin, geradeaus zu denken.
Wir müssen um unsere Wahrheit herum planen. Ansonsten planen wir unser Scheitern.
Die Frage nach dem Warum
Manchmal hängen wir uns an dieser Frage auf: Warum ist dort dieser Canyon? Wie ist er dorthin gekommen? Aber vielleicht müssen wir diese Fragen erst einmal gar nicht beantworten können.
Sondern eher die Frage: Wo ist der nächste Stein, den ich gewillt bin hier her zu tragen, um mit dem Bau der Brücke über den Canyon zu beginnen?
Zum Beispiel: Was sind die Dinge, die Sicherheit für mich kreieren würden und mein Nervensystem beruhigen würden? Wie fühlt sich Sicherheit für mich überhaupt an?
Eine kleine, ganz persönliche Geschichte:
In meinem Leben habe ich viele Male versucht, mit dem Joggen zu beginnen, doch spätestens nach dem vierten oder fünften Mal habe ich jedes Mal wieder aufgegeben. Es war frustrierend.
Das Scheitern an einem Ziel wie dem regelmäßigen Joggen erscheint im Vergleich zu wichtigeren Herausforderungen unbedeutend. Doch genau deshalb habe ich es ausgewählt.
Denn – es hat trotzdem Jahre gedauert, bis ich bereit war, dieser Realität ins Auge zu sehen und sie als Teil meines Selbstbildes zu akzeptieren. Vorher bin ich immer wieder dem oben beschriebenen Muster gefolgt: Ich habe es versucht, bin gescheitert, habe erneut begonnen – nur um wieder zu scheitern.
Erst nachdem ich dahin sehen konnte, war es mir möglich, mich dem zuzuwenden, was mir daran so große Schwierigkeiten machte. Mir wurde klar, dass es mir überhaupt keinen Spaß machte, draußen rumzurennen, völlig fertig zu sein und nicht vom Fleck zu kommen. Wenn ich in der Natur joggen ging, dann wollte ich auch eine längere Strecke zurücklegen. Mein eigentliches Ziel war also nicht nur zu joggen, sondern mit dieser ganz spezifischen Vorstellung davon verknüpft.
Das war für mich aber nicht mal eben zu schaffen. Bei meinem Trainingszustand war da ein ziemlich großer Canyon zwischen mir und meinem Ziel, das musste ich mir eingestehen. Es war nötig meinen Fokus von meinem finalen Ziel wegzunehmen und auf die Bearbeitung der Schwierigkeiten, die auf dem Weg dahin lagen, zu richten.
Nachdem ich bis zu diesem Punkt gekommen war, war es nicht mehr allzu schwer, eine Lösung zu finden: Ich kaufte mir einen Cross Trainer und begann mir zu Hause, während ich mich mit dem Ansehen von Filmen ablenkte, eine Grundkondition anzueignen. Danach hat es auch draußen Spaß gemacht.
Noch mal zurück zur Wahrnehmung
Wenn wir schwerwiegenderen Problemen gegenüberstehen, dann kann es deutlich schwieriger sein, überhaupt erst einmal dort anzukommen, wo wir uns befinden, und die Realität wahrzunehmen.
Unser Unterbewusstsein nutzt in solchen Momenten Schutzmechanismen, um uns vor überwältigenden Emotionen oder kognitiver Dissonanz zu bewahren – dem unangenehmen Spannungszustand, der entsteht, wenn unsere Überzeugungen und unsere Realität nicht übereinstimmen.
Solange unser Unterbewusstsein der Ansicht ist, dass wir nicht in der Lage sein werden, die Konsequenzen zu tragen, wird es alles dransetzen, dass wir die Augen gar nicht erst öffnen. Dieses Verhalten ist Teil der Selbstregulation und darauf ausgerichtet, uns vor Überforderung zu schützen.
Jemand, der mit etwas Abstand auf das Geschehen blickt und uns empathisch spiegelt, ist hier eine große Stütze.
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